„Europäischer Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen“ 2022
Dieses Jahr stand unter dem Motto „Tempo machen für Inklusion – barrierefrei zum Ziel!“. Um 15.30 Uhr haben wir unseren Stand am Augustinerplatz aufgebaut. Es gab die Möglichkeit mit dem Rollstuhl durch die Stadt zu fahren, oder eine geführte Runde mit Dunkelbrille und Blindenstock zu probieren – eine ganz besondere Erfahrung, wenn man orientierungslos versucht, durch Hören und tastendes Pendeln, mit dem Stock weiterzukommen.
OB Burchardt kam vorbei und probierte, zum 1. Mal in seinem Leben, aus, wie es sich anfühlt sich mit einem Rollstuhl fortzubewegen. Der Innenhof des Rathauses war hier ein geeigneter Ort, um ein Gespür für die schwierigen Bodenbeläge zu erhalten.
In einem Gespräch mit OB Burchardt, nach dessen Rolli-Fahrt, sprach Dr. Christoph Zorn die Notwendigkeit an, dass eine Stadt wie Konstanz, einen hauptamtlichen Behindertenbeauftragten benötigt, um die brennenden Themen aller Menschen mit Behinderung (immerhin 13% der gesamten Bevölkerung) adäquat voranzutreiben. Die Arbeit aus dem Ehrenamt, ohne Büro, ohne Schreibkraft, ohne finanzielle Vergütung wird dem Thema in keiner Weise gerecht.
Erfahrungsbericht über einen „Stadtspaziergang“ mit Dunkelbrille und Blindenstock:
Roland, mein Blindenführer, reicht mir die Dunkelbrille und meinen Blindenstock, der Stock hat meine Größe, ich halte ihn mit der rechten Hand, den Zeigefinger ausgestreckt auf den Stock aufgelegt, mit dem Stockende etwa 10cm vor meinem Bauchnabel, damit ich eine Pufferzone habe, falls ich irgendwo auflaufe, damit ich mich nicht sofort aufspieße. Die Beläge am Boden (Pflastersteine, normale Platten, geteerte Flächen, Sandsteinblöcke, gekieste Naturwege mit Gras am Rand), Durchgängen, welche durch die akustische Veränderung Beklemmungen und ein Gefühl der Enge verursachen, als würde man durch einen niedrigen Durchgang gehen und sich gleich den Kopf anstoßen. Im Gehen wird der Arm, welcher den Stock führt, von links nach rechts und wieder zurück, immer in Vorwärtsbewegung, schwer und müde und das Gespräch mit meinem Begleiter lenkt mich vom Belag ab, an welchem ich mich orientieren könnte und ich werde immer langsamer, bewege mich wie eine Schnecke, ich krieche durch die Stadt, während ich mit dem Stock taste und versuche das Gespräch in Gang zu halten und lausche den vielen Lauten. Uns kommen andere Menschen entgegen, ich höre, wie ich mit meinem vorsichtig staksenden Gang und meinem Stock die Aufmerksamkeit auf mich ziehe und über mich geflüstert wird (ein Jugendlicher, der seine Mutter fragt: „…ist der blind…“ – Mutter: „Ich glaube das ist eine Aktion…“) und so laufe ich, überwältigt von Eindrücken, welche mir in dieser Form bislang gänzlich unbekannt sind, mit meinem Stock in ein sehr ungeschickt abgestelltes Fahrrad und verliere komplett den Weg. Zum Glück habe ich Roland an meiner Seite und er lotst mich – „drehe auf 9 Uhr“ – schließlich, in den Rathausinnenhof, hier ist es ruhiger, es fühlt sich geschützter an, weg von den vielen Menschen mit ihren Geräuschen und ich weiß, wir sind auf dem Rückweg zum Augustinerplatz. Die Treppen, an welchen ich hängenbleibe, sind eine neue Form der Behinderung auf meiner Teststrecke und als ich den Brunnen vom Augustinerplatz links vor mir leise plätschern höre, kann ich mir wieder vorstellen, wo wir sind. Zum Abschluss aus dem Rathaushof schleiche ich durch den Tür-Durchgang – hier ist die Akustik so eng, dass ich tatsächlich die freie Hand nach oben ausstrecke, um den Kopf zu schützen, keine Gefahr, so niedrig ist es hier nicht, mein Ohr sah das definitiv anders. Meine Teststrecke betrug gerade einmal 300-400m, wir haben mind. 10min. dafür gebraucht. Die Strecke ist geschafft, ich bin übervoll mit neuen Eindrücken und gebe meinen geliehenen Blindenstock und die Dunkelbrille ab für die nächste Erfahrungsmutige.
Für Menschen, welche auf diese Form der Orientierung angewiesen sind, gibt es Trainingsstunden von der Krankenkasse und diese sind auch sehr nötig, wenn man sich unabhängig fortbewegen und im Alltag, in seiner Stadt, zurechtfinden möchte. Nun frage ich mich, wie geht es all den Autisten, mit ihrer Orientierungslosigkeit und ihrer Reizüberflutung, auch hier wäre sicher das ein oder andere Training für den Alltag sehr wertvoll, allein mir wäre kein solches Angebot bekannt.